Sonntag, 3. August 2025

Umstrittene Richterwahl: wie begründet sind die Vorwürfe?

Frau Brosius-Gersdorf ist als Richterin fürs Bundesverfassungsgericht vorgeschlagen worden; doch ist ihre Wahl bisher nicht zustande gekommen. Gegen sie wird der Vorwurf erhoben, sie spreche ungeborenen Menschen die Menschenwürde ab und wolle einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt legalisieren. Sie bezeichnet diesen Vorwurf als falsch.
Wie begründet nun ist dieser Vorwurf?
Er geht zurück auf das Kapitel „5. Verfassungsrechtlicher Rahmen für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs“ aus dem „Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“, für das Frau Brosius-Gersdorf verantwortlich zeichnet.
«Ob dem Embryo/Fetus der Schutz der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zugutekommt», wird dort (unter 5.2.1.1.) als «fraglich» bezeichnet. Es gebe «gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt» («gilt» im Indikativ!) – was das für „gute Gründe“ sein mögen, schreibt sie nicht. Im Folgenden wird noch von der Möglichkeit gesprochen, daß die Menschenwürde schon vor der Geburt garantiert sei, aber im Potentialis – «ausginge», «fände», «bestünde». Das bedeutet, daß dieser Sicht nur nachrangige Wahrscheinlichkeit zugebilligt wird.
Mit anderen Worten: die Autorin spricht zwar, entgegen jenem Vorwurf, dem ungeborenen Menschen nicht rundheraus die Menschenwürde ab; sie geht aber davon aus, daß er sie nicht selbstverständlich genießt. Das heißt, daß die Menschenwürde dem Menschen nicht kraft seines Menschseins von vornherein zustünde, sondern aus ungenannten „guten Gründen“ erst zugebilligt würde.
Auch will sie nicht einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt legalisieren. Doch sie schreibt: «Wegen der existenziellen Abhängigkeit des Ungeborenen vom Körper der Schwangeren spricht viel dafür, dass das Lebensrecht pränatal mit geringerem Schutz zum Tragen kommt als für den geborenen Menschen Im Zeitraum zwischen Nidation und extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus gilt entweder ein gleichbleibend geringes Schutzniveau ...»
«.. spricht viel dafür, dass ...» – was dieses viele sei, erfährt man nicht. Die Logik hinter dieser Argumentation scheint zu sein, daß der Staat sich nicht in die Gemeinschaft von Mutter und Kind einzumischen habe. Aber sie bezieht sich nicht auf das Lebensrecht an sich, sondern nur auf deren staatlichen Schutz.
Zum Vergleich: in der Antike hatte der Staat kaum das Recht, in die Familie zugunsten von Kindern einzugreifen. Aristoteles schreibt: «Denn gegen diejenigen, die schlechthin zu unserer Person gehören, kann man kein Unrecht üben; der Sklave aber und das Kind, solange bis es das Alter erreicht hat um selbständig zu werden, ist wie ein Teil des Hausherrn ... Darum also kann man diesen kein Unrecht zufügen.» (Nikomachische Ethik l. V c. 10 [1134 b].) Die Argumentation ist ähnlich: „existentielle Abhängigkeit“ einerseits, „mangelnde Selbstständigkeit“ andererseits.
Nichtsdestoweniger verbietet der Eid des Hippokrates dem Arzt die Abtreibung: «Auch werde ich keiner Frau einen abtreibenden Sud geben.» Gebilligt hat die Antike die Abtreibung somit nicht.
Die Argumentation der Autorin ist bis hierher in sich schlüssig; sie bedeutet freilich, der Autonomie der Familie den Vorrang zu geben vor den Menschenrechten des einzelnen. Somit hätte das grundlegende Menschenrecht auf Leben dem Elternrecht zu weichen – eine sehr radikale Forderung.
Aber sie würde nicht begründen, staatlicherseits Hilfen für Abtreibungen zu Verfügung zu stellen oder gar Abschreibungsmöglichkeiten zu organisieren.
Aber die Autorin geht noch weiter: «Im Zeitraum zwischen Nidation und extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus gilt entweder ein gleichbleibend geringes Schutzniveau oder ein Konzept des pränatal gestuften oder kontinuierlich anwachsenden Lebensrechts, dessen Schutz sich am jeweiligen Entwicklungsstadium des Embryos/Fetus orientiert.»
„Gestuftes oder kontinuierlich anwachsendes Lebensrechts“ – ein Gedanke, der im Grundgesetz nicht vorgesehen ist.
Schließlich aber: «Ab extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus hat sein Lebensrecht starkes Gewicht. Ab Geburt gilt das Lebensrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit vollwertigem Schutz (5.2.1.2.).»
Welche Bedeutung die Geburt für das „Lebensrecht mit vollwertigem Schutz“ haben soll, bleibt ohne echte Begründung. Kurz darauf heißt es: «Beim geborenen Menschen besteht keine vergleichbare existenzielle Angewiesenheit auf eine leibliche Einheit mit anderen Grundrechtsträgern wie beim Ungeborenen». Einerseits wäre das bestenfalls ein Argument ab «extrauteriner Lebensfähigkeit des Fetus», nicht erst ab der Geburt; denn eine «existenzielle Angewiesenheit auf eine leibliche Einheit» gibt es bei «extrauteriner Lebensfähigkeit» in den letzten Schwangerschaftswochen nicht mehr. Andererseits ist die «Angewiesenheit» eines Menschen auf einen anderen kein Argument gegen dessen Menschenrechte – sonst dürfte es etwa im Strafrecht kein Delikt „Unterlassene Hilfeleistung“ (§ 323c) geben.
Guter wissenschaftlicher Stil ist, aus allgemein anerkannten Prinzipien oder Tatsachen Regeln abzuleiten und danach diese Regeln auf besondere Fälle anzuwenden. Hier aber entsteht unabweisbar der Eindruck, daß die Autorin für die Zulässigkeit von Abtreibung Prinzipien konstruiert, die außer ihrer Brauchbarkeit für den besonderen Fall keine echte Begründung haben. Sie schreibt dann: «Ein Konzept des pränatal geringeren Lebensschutzes ist deshalb kein Einfallstor für postnatale Lebensrechtsdifferenzierungen (5.2.1.2.).» Das ist zu bezweifeln; ebenso ließen sich Prinzipien konstruieren, die auch auf andere Menschen anwendbar sind. Man darf der Autorin glauben, daß sie das nicht will; doch es ist leicht möglich – zumindest existenzielle Angewiesenheit gibt es auch bei Schwerstbehinderten (und auch bei Säuglingen; aber deren Lebensrecht zu beschränken wird noch niemand wagen).
Auch habe ich gelesen, daß die Frau Brosius-Gersdorf wirtschaftsliberal gesonnen sei; aber für diesen Vorwurf habe ich keine Belege gefunden. Natürlich ist es wichtig, daß niemand Verfassungsrichter wird, der, neoliberal gesonnen, dem Eigentumsrecht Vorrang gibt gegenüber der Sozialbindung des Eigentums (wie es schon bei Gelegenheit seitens des Bundesverfassungsgerichts geschehen ist). Ein aktuelles Thema ist das Mietrecht, das reformiert werden muß – auch erschwingliche Wohnungen sind wichtig, um soziale Sicherheit für Eltern, für Mütter zu schaffen, die Kinder aufziehen sollen.

Samstag, 22. Februar 2025

Der Krieg in der Ukraine:
Eine abwegige Beschuldigung und ein historisches Vorbild

Der US-Präsident hat jetzt erklärt, die Ukraine habe den Krieg gegen Rußland begonnen. Abwegig – aber Rußlands Vorgehen hat ein US-amerikanisches Vorbild.
Zum Vergleich:
2014 begannen Separatisten in den ukrainischen Bezirken Donezk und Luhansk einen Aufstand, riefen unabhängige „Volksrepubliken“ aus. Es folgte ein Bürgerkrieg. 2022 wurden die „Volksrepubliken“ von Rußland anerkannt, tags darauf begann Rußland den Krieg gegen die Ukraine. Einige Monate später wurden beide „Volksrepubliken“ von Rußland annektiert.
1835 begannen im mexikanischen Bundesstaat Coahuila y Texas aus den USA eingewanderte Separatisten einen Aufstand, bildeten eine eigene Regierung, riefen die Unabhängigkeit der „Republik Texas“ aus. Es folgte ein Bürgerkrieg. 1845 annektierten die USA Texas; es folgte der Mexikanisch-Amerikanische Krieg, der damit endete, daß die USA Mexiko zur Abtretung von Texas und auch der mexikanischen Bundesstaaten Alta California und Nuevo Mexico zwangen.
So wurde es in Texas wieder möglich, legal Sklaven zu halten – in Mexiko war die Sklaverei 1810 offiziell abgeschafft worden; doch ihre Abschaffung durchzusetzen war praktisch noch nicht gelungen.
Immerhin wurde in diesem Krieg Mexiko nicht von den USA bombardiert (es gab noch keine Flugzeuge, Raketen, Drohnen).
Schon damals hätte ein führender US-Politiker, Samuel Houston (nach dem heute die größte texanische Stadt benannt ist), gerne ganz Mexiko annektiert.

Donnerstag, 6. Februar 2025

Krankenversicherung und Rentenversicherung:
was verweigert, was gefordert wird

Long-Covid, Chronisches Erschöpfungssyndrom (ME/CFS): schwerwiegende Erkrankungen, die einen Menschen oft über lange Zeit nicht nur quälen, sondern zudem arbeitsunfähig machen.
Was dagegen tun?
Da dieses Erschöpfungssyndrom vor der Corona-Epidemie recht selten war, sind Heilmethoden wenig erforscht. Zugelassene Medikamente gibt es bisher nicht. Immerhin gibt es „Off-Label-Medikamente“, die zwar anscheinend durchaus helfen, aber noch nicht offiziell zugelassen sind und darum nicht von den Kassen bezahlt werden (und teuer sind). Leider ist die Prozedur zur Anerkennung langwierig und teuer (und den Pharma-Unternehmen anheimgestellt).
Kurz gesagt: weil ihr Nutzen noch nicht streng wissenschaftlich erwiesen ist, sind die Medikamente – Versicherungsrecht – für die meisten Betroffenen unerschwinglich.
Es bleibt für viele nur die Erwerbsunfähigkeitsrente. Da aber gilt der Grundsatz: „Reha vor Rente“. Solch eine geforderte Rehabilitationskur umfaßt vielerlei Aktivitäten der Betroffenen. Allerdings brauchen Menschen, die an einem Chronischem Erschöpfungssyndrom leiden, nicht Aktivierung, sondern ganz viel Ruhe. Die üblichen Rehabilitationskuren sind für sie schädlich.
Kurz gesagt: wenn auch der Schaden solcher Rehabilitation bekannt ist, so führt doch oft – Versicherungsrecht – kein anderer Weg zur für viele leider notwendigen Erwerbsunfähigkeitsrente.

Dienstag, 5. November 2024

Die Folgen einer Strafrechtsreform

Ein Zeitungsartikel (Sophie Fichtner: Die verknackte Generation. taz vom 26.10.24) beschreibt, wie gewaltferne Straftäter vorbereitet werden auf eine Zeit in der JVA. Die Ratschläge reichen von der Warnung, Drogen anzunehmen, bis zur Anleitung zur Anfertigung einer legalen Schlagwaffe.
Der Grund: es gebe in den Anstalten einen Anteil von 5 % „Schwerstkriminellen“, es geht darum, sich vor denen zu schützen.
Aus beruflicher Erfahrung heraus weiß ich, daß solche Sorgen der Schwerstkriminellen wegen durchaus begründet sind.
Und das dank der Strafrechtsreform vor gut fünfzig Jahren.
Bis 1970 gab es verschiedene Arten der Freiheitsstrafen; Einschließung – die auf die alte Festungshaft zurückging und damals schon keine Rolle mehr spielte –, Gefängnis und Zuchthaus. Die Schwerstkriminellen landeten in der Regel im Zuchthaus, die kleinen Straftäter im Gefängnis. So war damals für letztere die Gefahr der Mißhandlung durch andere Gefangene viel geringer.
Ein weiterer Schutz für harmlosere Straftäter ist Einzelhaft. Schon Johann Hinrich Wichern hat seinerzeit grundsätzlich Einzelhaft im Gefängnis gefordert. Heute gibt es eigentlich ein Recht auf Einzelhaft – eigentlich: «In Deutschland wird allerdings der Anspruch auf Einzelunterbringung vielfach unterlaufen» (Wikipedia s.v. Gefängniszelle).

Samstag, 28. September 2024

LX
Is pollà éti – mnogaja ljeta
 – ad multos annos

Zwanzig ist die Zahl des Heiligtums: zwanzig Ellen sind sein Maß (I. Kg. 6; II. Chr. 3 f.); im Spiegel des Himmlischen verdreifacht: Sechzig.
«Ich war fünfzehn, und mein Wille stand aufs Lernen, mit dreißig stand ich fest, mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr, mit fünfzig war mir das Gesetz des Himmels kund, mit sechzig war mein Ohr aufgetan.»
(Confutius [Lun Yü II, 4 verdeutscht von Richard Wilhelm]
 – um wieder einmal lógous spermatikoùs zu zitieren)
Herzlichen Glückwunsch!

Dienstag, 16. Juli 2024

Das Leben in vollen …

Zügen genießen, pflegte man früher zu sagen. Das hat die Bahn geändert: Schienenersatzverkehr an allen Ecken und Enden – heute heißt es, das Leben in vollen Bussen zu genießen.
Es geht: im übervollen Bus sind auch einige junge Herren aus dem Orient, die dem ergrauten Ehepaar ihren Sitzplatz anbieten, ihn ihnen geradezu aufdrängen.
Aber doch: auch volle Züge lassen sich noch leicht finden.

Mittwoch, 3. April 2024

Recycling? Rezyklieren? Anakyklosis?

Lieber ein lateinisch-griechisch-englisches Mischwort mit englischer Aussprache oder ein lateinisch-griechisch-französisch-deutsches Mischwort mit ein wenig originalnäherer Aussprache? Oder doch ein schlicht griechisches Wort, das hierzulande nur Gebildete verstehen?
Wie dem auch sei – es ist eine gute Sache. Und ausnahmsweise einmal hier Werbung, die Werbung eines Unternehmens aus der Region – nur für Menschen ohne Diskriminierungssorgen!