Die Zöllner geben sich berufsgemäß streng. Aber als eine wirkliche Schwierigkeit auftaucht – wer eigentlich hat uns eingeladen? – wird uns sogleich eine Notlösung vorgeschlagen. So geht es dann doch – wir sind angekommen in Armenien.
ERIWAN
Um es gleich vorweg zu sagen: Radio Eriwan gab es wirklich, gibt es immer noch.
Eriwan ist erbaut im Stil der 20er und 30er Jahre, mit gelungenem solidem Lokalkolorit, geprägt durch den hier reichlich vorhandenen natürlichen Stein. Daneben ganz moderne Gebäude, die sich in diesen Stil bemerkenswert gut einfügen.
Auf den ersten Blick eine moderne Millionenstadt der gehobenen Qualität. Aber wenn man dann etwas über die Geschichte erfährt, nimmt man es anders wahr.
Zur Zeit des I. Weltkriegs konnten etliche Armenier aus der Türkei vor dem Völkermord ins russische Ost-Armenien fliehen. Die meisten davon kamen nach Eriwan.
Einige Jahre später, nach dem Fall des Zarenreichs, entstand hier die Armenische Republik. Bald darauf aber wurde sie vom kemalistischen Regime bedroht. Wieder mußten viele fliehen, wiederum kamen die meisten davon nach Eriwan. Schließlich annektierte die Sowjet-Union die Reste der Armenischen Republik. Freilich war auch das Sowjetregime mörderisch; aber es sicherte dem armenischen Volk das physische Überleben, der Republik das Fortbestehen – wenn auch als Sowjetrepublik.
Die Aufgabe aber, aus einem Landstädtchen eine moderne Großstadt zu machen, in der etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt, meisterte die junge Sowjetrepublik in beachtlicher Weise.
Und wenn man nun spät abends auf dem Platz der Republik steht, die farbig beleuchteten Fontainen vor den charakteristischen rotbräunlichen Fassaden betrachtet und die Musik aus den Lautsprechern hört, muß man feststellen: diese Stadt hat einen besonderen Charme.
LAND UND LEUTE
An vielem bemerkt man – die Armenier beklagen es selbst –, daß man in einem armen Land ist. Aber keineswegs ist Armenien ein Land der Dritten Welt.
Das zeigt sich schon daran, daß das Leitungswasser trinkbar ist. Es zeigt sich an der geringen Kriminalität. Wir lassen im Zug unser Gepäck über einige Haltestellen hinweg unbeaufsichtigt auf den Sitzen stehen. Als wir zurückkommen, steht es selbstverständlich noch unberührt da.
Bettler gibt es durchaus, aber längst nicht so viele wie in anderen früheren Sowjetrepubliken oder in Drittweltländern. Ganz anders als dort erwartet auch niemand außer Kellnern und Menschen ähnlicher Berufe ein Trinkgeld. Selbst Kinder, die uns in erwachsenem Auftrag über eine längere Strecke hin führen, lehnen ein Geldgeschenk entschieden ab.
Auch Alkoholismus spielt eine geringere Rolle: niemand nötigt uns zu 100 Gramm Wodka, und der Mann, der mit einer Flasche am Straßenrand sitzt, trinkt weder Wodka noch Bier, sondern Buttermilch.
Das Bildungsniveau soll den höchsten Stand in der gesamten Sowjetunion gehabt haben. So ist die armenische Sprache auch in der Schrift sehr lebendig. Die Schilder, die man in den Straßen sieht, sind selbstverständlich überwiegend armenisch beschriftet, wenn auch oft zweisprachig; im Buchhandel überwiegt ganz deutlich die armenischsprachige Literatur, es gibt reichlich armenischsprachige Zeitungen und auch Zeitschriften – bemerkenswert bei einem so kleinen Volk (gut drei Millionen Armenier leben im Land, etwa doppelt so viel in der Diaspora).
Daß man nicht in Südeuropa ist, merkt man an einigen Détails, dem orientalischen Brot etwa, und besonders angenehm daran, daß es in Kirchen, Museen und Geschäften keine Mittagspause gibt.
Daß man nicht im Orient nach Art der islamischen Länder ist, fällt in vollbesetzten Kleinbussen auf: Männer stehen auf, machen Platz, wenn eine ältere Frau hereinkommt. Und daß Männer und Frauen oft dicht aneinandergedrängt sitzen müssen, stört niemanden.
Alles geht ohne jede Hektik und ohne unnötige Umstände: wenn das Refektorium von Hagharcin eine Baustelle ist, die daheim mit großen Absperrungen und Schildern zelebriert würde – «Eltern haften für ihre Kinder» –, können wir hier zwischen Steinen und Baugeräten herumstolpern und so in aller Ruhe besichtigen.
GASTFREUNDSCHAFT
Die armenische Gastfreundschaft ist Legende; wir sind ihr ganz real begegnet. Immer wieder werden wir eingeladen – von alten Damen zum Picnic nach der Kirche, von Mitbewohnern in der Ferienanlage, wo wir zwei Tage Urlaub vom Urlaub machen, vom Schaffner im Zug zur Besichtigung der Lokomotive, vom Taxifahrer zum Imbiß auf der Fahrt bei einem Freund (dafür nimmt er einen bemerkenswert geringen Fahrpreis). Die Verständigung ist zwar schwierig infolge unserer fehlenden Armenisch- und meiner sehr kargen Russischkenntnisse, aber das macht nichts – Armenier wissen sich auch so lebhaft zu unterhalten. Ob ich an Gott glaube, fragt mich der Schaffner; «ich auch», antwortet er mir dann.
Und die Armenierin, die sehr gut Deutsch spricht, zu der wir über irgendwelche Kontakte Verbindung aufgenommen haben, scheut sich nicht, uns bei unserer Ankunft in tiefster Nacht vom Flughafen abzuholen, umsorgt uns dann liebevoll die ganze Zeit hindurch.
Die armenische Gastfreundschaft ist herzlich und wohlschmeckend. Der armenische Kaffee ähnelt dem griechischen, ist aber nur so wenig gesüßt, daß es nicht schlimm ist, wenn man nicht dazu kommt, «ohne Zucker» zu sagen. Das Obst ist köstlich – Aprikosen stammen aus Armenien; leider ist ihre Zeit schon vorbei. Aber sie werden von Pfirsichen würdig vertreten. Eine besondere Rolle spielen Wassermelonen; sie schmecken besser als bei uns, sind nicht so übermäßig süß.
Und immer wieder werden wir von ganz Unbekannten beschenkt, meist mit Obst (jegliche Bezahlung wird strikt abgelehnt). In einem Restaurant – wir haben nur Wasser und Bier – bringt uns jemand von einem Nachbartisch zwei Gläser Wein, schenkt mir auch später noch nach. Nach der Besichtigung einer Kirche kommt ein Mann auf uns zu: sein Bruder sei Maler, habe ein Bild für uns gemalt, «zur Erinnerung» – eine gelungene Kreidezeichnung von der Kirche; die beiden impressionistischen Schemen davor sind wohl wir.
DIE KIRCHEN
Die Kirchen sind es, deretwegen wir eine so weite Reise geplant haben. Und die Erwartungen werden mehr als erfüllt: Kirchen sind wieder zugänglich, die mein Reiseführer aus der späteren Sowjetzeit noch gar nicht kennt. Diese wiederhergestellten Kirchen sind in der Regel bereits wieder für den Gottesdienst hergerichtet. Sie sind architektonisch meist von erlesener Qualität, auch Kirchen aus dem VII. Jahrhundert sind oft guterhalten. Die armenischen Mönche scheinen viel Sinn für die Landschaft gehabt zu haben, Klöster wurden gern an besonders schönen Stellen errichtet, auf der Insel – heutzutage Halbinsel – im Sevan-See etwa und, besonders zahlreich, an der Schlucht des Kasach.
Vom Grundriß her überwiegen bei weitem Zentralbauten östlichen Typs. Die spitzen Turmhelme über hohen Tambouren und die schießschartenartigen Fenster sind charakteristisch für Transkaukasien – erstaunlich, wieviel Licht diese Fenster doch geben. Viele Bauformen aber – auch aus der Zeit vor den Kreuzzügen – muten ganz romanisch an.
Besonders auf fällt eine kleine Kappelle in Ovanavank mit einem grobbehauenen Tonnengewölbe mit Gurtbögen, die auf Kragsteinen zwischen den Bögen der Arkade ruhen. Wäre die (halbkuppelüberwölbte) Apsis nicht rund, sondern viereckig, könnte man die Kappelle für altspanisch halten. So klein sie auch ist, Presbyterium und Chor sind klar abgesetzt, wie meist bei armenischen Kirchen. Als Altersangabe erfahre ich: IV. Jahrhundert; Mesrop selbst, der Schöpfer der armenischen Schrift, habe hier vorm Eingang das Alphabet eingraviert.
Die armenische Liturgie lebt vom Gesang: der markante, eher harte Gesang der Kantoren und des Klerikerchors wechselt einerseits mit dem volltönenden Sprechgesang der Gebete und Lesungen (das Evangelium allerdings kennt einen wohlausgebildeten Vortragston), andererseits mit dem hinreißend elegischen Gesang des Laienchores und seiner überragend guten Solistin.
Der Segensgestus fällt auf: wenn der Zelebrant mit der Rechten segnet, bleibt seine Linke auf den Altar gelegt – so, wie es auch in der syrischen Kirche geschieht. So wird augenfällig, woher der Segen kommt.
Ebenso bemerkenswert ist der Friedensgruß: ähnlich dem Friedensgruß der Kleriker in der überlieferten römischen Liturgie, dreifach allerdings: rechts – links – rechts. Ebenso wie in der syrischen Liturgie kommt er vom Altar, vom Priester, ein jeder empfängt ihn und gibt ihn weiter, ohne daß es zu einem störenden Hin und Her käme.