Montag, 27. Juli 2009

Was vermißt man

— wenn man nach mehr als einem Decennium aus der hanseatischen Metropole dicht unterm Polarkreis in die kleine obersächsische Großstadt zieht?
Die dort gewonnenen Freunde und Patenkinder? Natürlich, aber die wird man wiedersehen; wir werden sie, sie werden uns besuchen.
Natürlich auch die Einkaufsgelegenheiten, die Lammherzen vom türkischen Metzger, den Babić, den Plavac (den von Ston), den Kaštelet vom Kroaten, das Gemüse aus den Vierlanden, ganz besonders das köstliche Obst aus dem Alten Land. Freilich darf man gespannt sein, was andererseits hierzulande zu entdecken sein wird.
Was aber wohl endgültig fehlt, sind die Gottesdienste in St. Prokop. Einige Monate erst lebte ich im Norden, als ich hörte, daß dort einmal im Monat die Gottesdienste auf Deutsch gefeiert werden, Göttliche Liturgie ebenso wie am Vorabend die Nachtwache. Daraufhin ich ging dort zur Nachtwache; und von da an ging ich, wenn es möglich war, allmonatlich dorthin. Es ist schön dort: der Ritus ist schön, der Gesang, der Raum der Kirche. Und hinter dieser Schönheit ist die Liebe zu spüren, mit der hier alle mitwirken am gemeinsamen Ziel, dem Gottesdienst. Und so fühlte ich mich hier bald heimisch, heimischer als in einer der hiesigen katholischen Kirchen, obwohl ich ja gar nicht zur Communio der Orthodoxen Kirche gehöre. Hier erlebte ich Glauben, der im Ritus Gestalt annahm, hier erfuhr ich, was wirkliche «participatio actuosa» ist, eine Teilnahme der Gemeinde am Ritus, der ihrer Teilnahme am Glauben entspringt.
Alle hatten teil daran, die Offizianten, der kleine Chor, die Gemeinde im Kirchenschiff. Langsam wurde ich dann dessen gewahr, welch entscheidenden Anteil daran der ehrwürdige alte Priester hatte, den ich hier allmonatlich erleben konnte, wie sehr er diese Gemeinde prägte. Er scheute keine Mühe, seine Aufgabe im Gottesdienst mit Liebe auszuführen, auch als die Last des Alters ihm das immer schwerer machte. Ich spürte seine Liebe, wenn er uns Gläubigen nach der Verehrung des Evangelienbuchs die Stirn salbte, so wie ich sie dann auch später bei persönlichen Begegnungen spürte. Und während der Nachtwache geschah es, daß er einen Schwächeanfall erlitt und noch in derselben Nacht starb.
Einige Monate nach seinem Tod hörte ich von seinem Diakon einen Vortrag mit dem Titel: «Was ist Orthodoxie?». Ich stellte fest, daß dies auch ein hervorragender Vortrag gewesen wäre, wenn er ihn unter dem Titel «Was ist Christentum?» gehalten hätte.
Bald darauf wurde dieser Diakon zum Priester geweiht; und mit ihm wird der Gottesdienst in Sankt Prokop, wie ich ihn kenne und liebe, weitergeführt. Künftige Besuche im Norden werde ich, wenn möglich, so einrichten, daß ich an diesen Gottesdiensten teilnehmen kann.